Ein Familientreffen dient ja immer auch dazu, sich gegenseitig die Geschichten wiederzuerzählen, die man sich seit Jahren und vielleicht Generationen erzählt und sie durch das Erzählen lebendig zu halten und zur Familiengeschichte werden zu lassen.
So wie die Geschichte von der Sängerin Katharina, die in den 1920er Jahren in Berlin eine leidenschaftliche Dreiecksgeschichte mit dem Orchesterdirigenten und dem blinden Organisten gleichzeitig hatte. Mit dem Dirigenten bekam sie einen Sohn, heiraten tat sie aber den Organisten, denn der Dirigent war jüdisch und die Nazis auf dem Vormarsch, und alle drei hatten Angst um den Jungen. Der Organist liebte Katharina, und so adoptierte er ihren Sohn und machte ihn auf dem Papier zum "Arier", inklusive sehr deutschem Nachnamen. Der Sohn wiederum, der die Nazis nicht damit durchkommen lassen wollte, dass sie mit seinem Vater auch seinen Familiennamen ausgemerzt hatten, und der seinen Ziehvater trotzdem auch liebte, setzte später gegen alle bürokratischen Hürden durch, dass er die Nachnamen seiner beiden Väter tragen durfte und als Familiennamen seitdem einen Doppelnamen trug, den er auch an seine Nachkommen weitervererben darf.
Oder wie die Geschichte von der Familie aus dem kleinen, armen, engstirnigen Bauerndorf, die eigentlich gar keine Familie war, denn die Tochter war unehelich und jeder im Dorf wusste, wer der Vater war, aber weil der Vater der Sohn des reichen Gutshofbesitzers war, kam er damit durch, als einziger nicht wissen zu wollen, dass er Vater war. Und weil die Mutter arbeiten musste, um das Kind zu ernähren, und dafür in Anstellung in die Stadt ging, hatte die Tochter nicht nur keinen Vater, sondern auch keine richtige Mutter, sondern wuchs bei seiner Tante auf. Später wiederholte das Kind fast die Geschichte seiner Mutter, als es ebenfalls unverheiratet schwanger wurde. Weil dieses Mal aber der Vater zwar aus einer Familie mit Grundbesitz kam, aber das zehnte von dreizehn Kindern war und deswegen nicht zu den Großkopferten gehörte, und weil ihm eine anständige Frau wichtiger waren als eine große Mitgift, heirateten er und die Frau und bauten sich gemeinsam einen eigenen Hof auf. Irgendwann gab es zwar Wohlstand in der Familie, aber nie Liebe, und die Frau war ihr Leben lang kreuzunglücklich und so flohen ihre beiden Töchter so früh wie möglich aus der Familie und aus dem Dorf, die eine in die Stadt, die andere in die ganz große Stadt und immer, wenn sie zu Besuch zurück ins Dorf kamen, brachten sie den Hauch der großen, weiten Welt mit, aber nie mehr das Gefühl einer geborgenen, heilen Familie, die sich doch alle immer gewünscht hatten.
Und aus lauter solchen Geschichten formen wir uns dann und finden, unser Leben sei viel realer als diese Geschichte, bis sich in 50 Jahren unsere Nachfahr:innen genau dieses unser Leben wie etwas erzählen werden, was vor langer, langer Zeit passiert ist und gar nicht mehr wahr, und genau so wird es auch sein.
Obwohl das Treffen gar nicht so lange war, nämlich nur gestern Abend und ein flüchtiges Wiedersehen und Verabschieden heute Morgen beim Frühstück, kamen J. und ich ausgelaugt zuhause an, denn viel Austausch und viele Geschichten und viel zu denken sind auch anstrengend. Aber: ich war nicht mehr so elend müde wir gestern, hoffentlich bleibt das jetzt so. Ich freute mich sehr über die aufgeräumte Wohnung und bin froh, dass Samstags-Nina das noch vor dem Aufbruch zum Familientreffen erledigt hat.
Weil der Nachmittag aber trotz Ausgelaugtheit noch fünf Stunden hatte, habe ich das erste Dokument aus dem veralteten Backup meiner Computer-Dateien auf jetzigen Stand aktualisiert, und das ist das erste Dokument, das ich seit dem Crash anfasse und damit auch der erste Schritt, wieder mit meinem Computer zu arbeiten und über den Datenverlust hinwegzukommen. Ans Klavier gesetzt habe ich mich auch noch, denn mein Vorhaben, fast jeden Tag bis zum Quintett-Termin Klavier zu üben, spornt mich an, und obwohl auch nur 20 Minuten schon als Üben gelten, wurden es dann 40 Minuten.
Mit dem Flow, in den ich dadurch gekommen war, tätigte ich einen weiteren der Anrufe, die zu tun sind und löste damit mein prokrastiniertes Problem, und dann machte J. mit mir noch eine Einheit Bauchmuskeltraining und dann waren die fünf Stunden auch schon fast herum und es gab nichts weiter mehr zu tun, als auf den Tatort zu warten und den Sonntag ausklingen zu lassen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen