Sonntag, 22. Oktober 2023

Die Entdeckung der Massendorfer Schaukel

"Na, ob das so eine gute Idee ist, heute fast 100 Kilometer Rad zu fahren..." war der Gedanke, mit dem ich bereits aufwachte. Wenig überraschend. Es langweilt mich wirklich, dass mein Kopf die Verknüpfung "Sport=Spaß" einfach nicht hinbekommt und mich in den Stunden vorher mit allen Mitteln vom Sportmachen abbringen will. Aber ich kenne mich ja und bin trotzdem gefahren. In einem lustigen Outfit, denn es sah von innen ziemlich kalt aus, ich habe aber keine lange Radlerhose und die Kompressionstrümpfe auf dem Bild dienen eigentlich nur der Wadl-Wärmung. Man beachte auch die Löcher an den großen Zehen, deretwegen ich schon öfter überlegt habe, die Strümpfe wegzuwerfen, aber dieses enge Gewebe bekommt nach zweimal Anziehen in den Fahrradschuhen eh gleich wieder Löcher an derselben Stelle. Ein langes Shirt habe ich noch drübergezogen über das Trikot und so war es nur einen kleinen Ticken zu warm.


Bei einem letzten Kontrollblick auf das Höhenprofil vor dem Losfahren kam mir der Gedanke, ob ich mir da wohl versehentlich die Massendorfer Wand in die Runde eingebaut hätte? Die Massendorfer Wand ist eine überregional berüchtigte Steigung, die für hiesige Verhältnisse lang und steil ist. Vor Ort konnte ich dann auflösen: Es war nicht die Massendorfer Wand, aber ich glaube, ich muss den Begriff der Massendorfer Schaukel ins Spiel bringen. Ich kam nach Massendorf von hinten rauf (von hinten wie von vorne, das nimmt sich nicht viel), flog die Wand nach Spalt hinunter und quasi aus dem Schwung heraus auf der anderen Seite wieder hoch. Nur dass auf zwei Kilometer mit bis zu 12% Steigung nicht mehr viel übrig bleibt vom Schwung. 

Die Ausfahrt war einfach herrlich. Wie könnte es auch anders sein, zu meiner Lieblingsjahreszeit: kühl, sonnig und goldener Herbst galore. Die Straßen waren sonntäglich verkehrsarm, ich habe einen Drachen, wohl zur Krähenabwehr gesehen, der einem echten Bussard verblüffend ähnlich sah und weiß jetzt, dass Rehe knapp 28 km/h schnell sind, denn zwei liefen einige hundert Meter parallel zu mir an einem Feld entlang, weil sie mich offensichtlich nicht witterten. 

Irgendwann kam mir der Gedanke, wie toll es doch ist, dass man manche Ziele im Laufe des Lebens einfach irgendwann erreicht, auch ohne sie permanent mit viel Einsatz zu verfolgen. Ich kann mich an einen Bekannten erinnern, der mich damit beeindruckte, dass er damals in meine Wohnung in Madrid im vierten Stock die Treppe hochstieg und erzählte, er laufe aus sportlichen Gründen immer die Treppe. Imponierte mir damals, mit Mitte 20, sehr; mittlerweile wohne ich seit sechs Jahren im fünften Stock und den Aufzug nutze ich nur, wenn ich etwas besonders Schweres oder Sperriges dabei habe. Oder die Frage meines Chefs in einem Studienpraktikum, was denn mein größtes Ziel im Leben sei. Einmal einen Marathon laufen, sagte ich damals. Und er, für mich ein weiser, alter Mann (schätzungsweise war er damals Anfang dreißig), verblüffte mich mit der Bemerkung, das sei ja nun ein Ziel, das mit Vorbereitung und Training absolut in meiner Reichweite läge. Recht hat er behalten! Mein Ziel zu Abizeiten, einmal einen Porsche zu besitzen, das ich damals durchaus ernst meinte, habe ich zum Glück irgendwann geändert. Stattdessen habe ich jetzt den Van Norbert, preislich wahrscheinlich gar nicht so weit vom Porsche entfernt, hat aber ganz andere Beweggründe und passt sehr viel besser zu mir.

Die ganze Fahrradunde hatte ich um einen Besuch des jüdischen Museums in Schwabach herum geplant, da fand heute die einzige Führung zur Sonderausstellung "Tuchmann verschwindet" statt. Nun ist das ja so ein Ding, nach 80 Kilometern Rennradfahren museumstauglich auszusehen und außerdem hatte ich dummerweise ein Fahrradschloss vergessen, so dass ich mein Rad mit in das Museum nahm, dort in einer Ecke unter der Treppe an einem wenig einsehbaren Ort verstaute und dann noch eine Weile herumgruschelte, um mir eine Hose an- und den Helm auszuziehen, das Navi und die Satteltasche abzumontieren, ein letzter Schluck Wasser und so, und als ich endlich zur Kasse kam, war die Museumshüterin sichtlich nervös, weil sie die Geräusche gehört hatte und sie im Museum seit Beginn des Israel-Krieges richtig Angst vor Attacken haben. Es ist doch schrecklich, dass jüdische Menschen hier jetzt wieder in Angst leben müssen. Die ganze Kriegssituation und ihre Auswirkungen machen mich betroffen.

Das jüdische Museum in Schwabach ist winzig, die Sonderausstellung ist in nur zwei Räumen untergebracht, und selbst dafür musste die Dauerausstellung ausgelagert werden. Aber mir gefiel die Idee sehr gut, das Leben eines einzelnen Schwabacher Geschäftsmannes nachzuzeichnen, mit vielen Objekten und Bildern aus dem Privatleben und auch seinem Unternehmen, einer Grammofon-Nadel-Fabrik. Die Führung hat die Kuratorin der Ausstellung gemacht und konnte auch viel dazu erzählen, wie sie überhaupt an die Objekte gekommen ist. Denn Tuchmann ist ja an sich keine berühmte Persönlichkeit, so dass sie in Privatnachlässen, Unternehmensüberbleibseln, Privatsammlungen von Grammofon-Nadeln und den Stadtarchiven gesucht haben. Tolle Ausstellung, und das Haus, in dem das Museum untergebracht ist, ist an sich schon sehenswert, mit seinem Fachwerkputz und Wandmalereien.

Die 15 Kilometer Heimfahrt vom Museum aus waren wie erwartet die schwersten der ganzen Rennradrunde 😁. Sie führten wie schon der Hinweg über meinen Arbeitsweg, den ich werktäglich ins Büro fahre, und es war interessant, das mal an einem Sonntag zu fahren, wo kaum Autos, dafür aber viele, viele Spaziergänger:innen unterwegs sind. 

J. kam nur kurz nach mir heim, und wir hatten beide dieselbe Idee gehabt: Heute Abend gibt's Pizza! Die war köstlich, danach war nur noch Sofa angesagt und es ist doch wieder erstaunlich, wie schnell so ein Tag vorbei ist.

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