Als ich aufstand, schliefen alle anderen noch - das war so abgemacht gewesen, denn es war erst halb sechs. Ich wollte unbedingt Venedig in leer sehen und genauso unbedingt ein Lauftraining einschieben, und das wäre temperaturbedingt später überhaupt nicht mehr möglich gewesen. Halb sechs, weil: Frühstück, Verdauungszeit; Laufstart Viertel nach sechs, weil: hell genug kurz vor Sonnenaufgang.
Das Laufen war fantastisch. Zwar roch es überall nach frischen Croissants (örgs beim Sportmachen), aber die Navigationsfunktion der Uhr funktionierte endlich so, wie ich mir das wünschte - mit Tonhinweis zum Abbiegen - und die Morgenstimmung über der Stadt war magisch. Es waren in Venedig kurz nach sechs Uhr morgens ungefähr so viele Menschen unterwegs wie in meiner Stadt abends um neun nach Geschäftsschluss :-). Und ich stand tatsächlich nur ein einziges Mal in einer Sackgasse, einen Kanal ohne Brücke vor mir.
Am schönsten der Moment, als ich vom Markusplatz aus auf das offene Meer stieß. Und dann, als hinter ebendiesem die blutrote Sonne in den schon hellen Himmel aufging. Das war der Moment, in dem ich zum ersten Mal stehenblieb für ein Foto, das den magischen Moment leider herunterzog, weil es, wie Handyfotos das nun mal so machen, überhaupt nicht so aussah wie der Sonnenaufgang in echt.
Es nieselregnete leicht (herrlich!) und die erste halbe Stunde war richtig gut zu laufen. Fürs Protokoll: Auf der Asphaltstrecke hatte ich während der ersten 2 Kilometer leichte Schmerzen im linken Unfallfuß, durchgehend im rechten großen Zeh-Knochen, aber nur ganz leicht. (Und ich war unglaublich langsam. Klar, unbekannte Strecke, ich wollte viel gucken, es war ab der Hälfte sehr schwül. Trotzdem.).
Als wir drei Damen aus dem Apartment kamen, war ich bereits unglaubliche sechs Stunden wach. Weil wir flexibel sind, änderten wir im letzten Moment die Richtung: Inselhopping statt Biennale zweiter Teil. Auf dem Spaziergang zum richtigen Vaporetto durchquerten wir das echte Venedig: voll bis obenhin. Dennoch, die Menschen drängten sich nur auf den Hauptachsen, ein wenig abseits war es sofort viel ruhiger. Noch bevor wir das Vaporetto betraten, kehrten wir zum Mittagessen ein in ein Lokal, an das die N. gute Erinnerungen hat; überhaupt wanderten wir heute viel auf den Spuren ihrer Vergangenheit. Das Lokal war immer noch sehr gut, wenn auch: "Vegetariano? No, signora, solo pizza.". Na gut, dann eben Pizza; die aber ausgezeichnet. Und Grillgemüse für die Nichte.
Das Vaporetto brachte uns nach Murano, das Vaporetto brachte uns später nach Burano. Es war glühend heiß, auf M- wie auf Burano, ich bekam Kopfschmerzen von der Hitze und hatte ein bisschen Bauchweh, die Nichte dagegen hatte eine Mission: eine bestimmte Anzahl Mitbringsel für einen bestimmten Geldbetrag finden; es war nicht einfach und ich ermüdete mehr und mehr. Immerhin erlaubte uns die Mission, alle paar Meter in klimatisierte Souvenirshops einzukehren. Als sie erfolgreich abgeschlossen war, entspannte sich die Lage, unser Schritttempo wurde wieder beschaulicher, auch Burano war beschaulicher als es Murano gewesen war, die berühmten bunten Häuser waren so bunt und schön, wie wir es uns nur wünschen konnten. Wir wanderten von Schatten zu Schatten, mussten eh viel anhalten, um Fotos zu machen und ist es nicht ein großer Vorteil daran, im Urlaub zu sein, dass ich ständig meinen Begleiterinnen mein Handy in die Hand drücken kann und sie darum bitten kann, Fotos mit mir drauf zu machen? "Nieces of Instagram": die Kategorie fehlt neben den "Boyfriends of Instagram" noch.
Gegen Ende des Tages war meine Konsumwiderstandskraft dünn geworden, den ganzen Tag an Angeboten vorbeizulaufen ohne etwas kaufen zu wollen, ja, ohne dass mir überhaupt etwas besonders gefallen hätte, und das, was mir gefiel, besonders teuer war, war durchaus anstrengend. Umso besser, dass das Vaporetto zurück nach Venedig genau dann am Anleger stand, als wir dort ankamen. Einsteigen, ablegen, in der Seeluft sitzen, ab nach Venedig. Es steht in jedem Reiseführer, jetzt schreibe ich es hier auch noch einmal: Das Vaporettofahren ist ein Highlight eines Venedig-Besuchs.
Wir hatten einen Absacker in einer Bar mit Brötchen mit un-merkbarem Namen und einem Aperol für die N. machen wollen; die N. wollte dem Tantchen nämlich beweisen, dass sie durchaus fähig sei, ihre jungen Mitreisenden auch noch abends zum Ausgehen zu motivieren. Die Bar versteckte sich aber zu gut und so wurden es stattdessen pane, formaggio und pomodori im stickig-heißen Apartment; das Essen unschlagbar, die Apartment-Temperatur unerträglich. Zu der Zeit merkte ich schon sehr deutlich, WIE früh ich heute aufgestanden war, bekam aber keinerlei Mitleid von meinen Mitbewohnerinnen - schließlich war das meine eigene Entscheidung gewesen! - und verzog mich, so bald es die Höflichkeit erlaubte, ins Bett.
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Gelesen:
Mariana Leky: Die Herrenausstatterin. Ein herzzerreißend schönes und trauriges Buch. Ich habe es als Hörbuch gehört, gelesen von Sandra Hüller, die die beste Vorleserin ist, die ich mir für diese Geschichte vorstellen kann, weil ihre Rollen meist ähnlich verloren sind wie die Hauptperson des Romans. Das ist Katja, deren Mann, ihre große Liebe, sie aus heiterem Himmel verlässt und dann auch noch kurz darauf stirbt. Katja findet Trost nur in Prof. Blank, der auf einmal in ihren Leben auftaucht. Prof. Blank ist tot und nur Katja kann ihn sehen. Er zieht bei ihr ein und die beiden beginnen eine platonische Beziehung voller liebevoller Zuneigung. Etwa zur selben Zeit tritt der karatebegeisterte Feuerwehrmann Armin in ihr Leben. Leky erzählt die skurrile Geschichte mit viel Wortgewandtheit und Zuneigung zu den Protagonist*innen. Kernthema ist Verlust, der nicht relativiert und auch nicht überwunden wird, sondern schmerzhaft und kaum erträglich bleibt. Und trotzdem: Das Leben. Hätte ich selbst so einen Verlust erlebt, wie Katja es tut, ich hätte das Buch nicht lesen können.
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